26. April 2024

Individuelle Mythologien

Was sind „Individuelle Mythologien“?

In meiner Kunst bediene ich mich tradierter Mythologien im Sinne der Definition des „Brockhaus“ und stelle sie in einem neuen individuellen Kontext. Der „Brockhaus“ definiert „Mythos“ wie folgt: „ [griech. Mythos „Wort“, „Rede“, „ErzĂ€hlung“, „Fabel“] (…) 1) die ErzĂ€hlung von Göttern, Heroen u.a. Gestalten und Geschehnissen aus vorgeschichtl. Zeit; 2) die sich darin aussprechende Weltdeutung eines frĂŒhen (myth.) Bewusstseins; 3) das Resultat einer sich zu allen Zeiten, auch in der Moderne („neue Mythen“), vollziehenden Mythisierung im Sinne einer VerklĂ€rung von Personen, Sachen, Ereignissen oder Ideen zu einem Faszinosum von bildhaftem Symbolcharakter.“ (Brockhaus, Mannheim 2006)

Ausschnitt “Weltenbrand”, 2021

Der polnische Philosoph Leszek Kolakowski weist in seinem Buch „Die GegenwĂ€rtigkeit des Mythos“ auf die Unbestimmtheit hin, die heute mit den AusdrĂŒcken „Mythos“ und „mythisch“ verbunden ist. „Im eigentlichen Sinne beziehen sich diese Worte nĂ€mlich … auf Situationen, die der empirischen Wirklichkeit sowie der irdischen Zeit vorangehen, die diesen jedoch einen konzisen Sinn geben und ein außerzeitliches, dem realen Werden enthobenes Paradigma schaffen, eines, dem man im realen Werden nacheifern muss; sowohl die Geschichten, aus denen sich die religiösen Mythologien zusammensetzen, wie die philosophischen Prinzipien, die in den RealitĂ€ten der Kultur die stufenweise ErfĂŒllung außerhistorischer Essenzen sehen … fallen unter diese Charakteristik.“ (Zitiert nach: Felix, Zdenek: Die wunderbare Reise des Michele de  la Sainte BeautĂ©. In: Museum Folkwang Essen, Hrsg.: Michael Buthe – Die endlose Reise der Bilder. Essen 1980, S. 12)

Sicherlich ist deutlich geworden, dass der Begriff „Individuelle Mythologien“ per se einen Widerspruch zur aufgefĂŒhrten Mythos-Definition darstellt, konfrontiert er doch die traditionelle Begriffsbestimmung von Mythos, der an das Kollektiv gebunden ist, mit privatistischen RealitĂ€tsentwĂŒrfen. „Individuelle Mythologien“ bezeichnen immer auch einen gestörten Kommunikationsprozess zwischen Produzent/in und Publikum, fĂŒr das die verrĂ€tselten Botschaften des Kunstwerkes nicht mehr oder nur noch partiell dekodierbar sind. Insofern erlaubt die symbolische Bildsprache der KĂŒnstler/innen den Rezipient/inn/en Einblicke in eine SphĂ€re, die als „privat“ empfunden und gleichwohl durch den RĂŒckgriff in das Private gesellschaftskritisch gewertet werden kann.

Individuelle Mythologien, der Begriff also, den ich zur kategorischen Beschreibung meiner eigenen Kunst verwende, wurde bereits 1963 von Walter Szeemann wĂ€hrend der Vorbereitung auf eine Ausstellung des französischen Plastikers Étienne-Martin geprĂ€gt. Dem internationalen Kunstbetrieb wurde der Begriff allerdings erst durch die Documenta 5  bekannt, die von Walter Szeemann kuratiert wurde und die den Titel „Befragung der RealitĂ€t – Bildwelten“ trug.

Innerhalb der Documenta 5 reprĂ€sentierten die „Individuellen Mythologien“ die Kategorie „Wirklichkeit der Abbildung“. Im Gegensatz zu ihren VorgĂ€ngerinnen betonte die Documenta 5 das kritisch-politische Moment in der Kunst. Szeemann brach – erstmalig in der Geschichte der Documenta – mit kuratorischen Konventionen, indem er – wie auch schon in seiner legendĂ€ren Ausstellung „When Attitudes becomes Form“ (1969) – Kunst vom musealen Kontext löste und die Prozesshaftigkeit des kĂŒnstlerischen Werkes betonte. Dies zeigte sich beispielsweise darin, dass Fluxus- und Happening-Kunst, genauso wie sogenannte Nicht-Kunst aus der Psychiatrie, der gesellschaftlichen Ikonographie und der politischen Propaganda, prĂ€sentiert wurden. Szeemann gab KĂŒnstlern die Gelegenheit, frei zu produzieren und löste somit das statisch-museale Moment der VorgĂ€nger-Documentas auf. Im RĂŒckblick wird die Documenta 5 in der Literatur als eine der wichtigsten Kunstausstellungen des Zwanzigsten Jahrhunderts gewertet. Individuelle Mythologien fungierten im zeitlichen Kontext der siebziger Jahre erst einmal als unscharfe Sammelbezeichnung fĂŒr kĂŒnstlerische Äußerungen, die jenseits eines eingrenzenden Paradigmas anzusiedeln waren. Mittlerweile hat sich die Terminologie „Individuelle Mythologien“ durchgesetzt, um eine Kunstrichtung zu definieren, in der KĂŒnstler/innen ihre eigenen mythologischen Vorstellungen in eine symbolisierende Bild- und Zeichensprache umsetzen.

„Die Individuellen Mythologien stehen fĂŒr eine gewisse Wende zu Beginn der siebziger Jahre, die mit dem RĂŒckzug in private Bereiche umschrieben werden kann und bezeichnenderweise Ă€hnliche PhĂ€nomene auf gesellschaftlicher Ebene wiederspiegeln. Dieser Schritt lĂ€sst sich auch als Abwendung von der RationalitĂ€t und objektiven AllgemeingĂŒltigkeit der Minimal- und Concept-Art erklĂ€ren. Eine Tendenz zum Sammeln und zur systematischen Dokumentation schafft enge BezĂŒge zur zeitgleichen Spurensicherung, die diese Merkmale noch intensiver pflegt, bis hin zu quasi museologischer PrĂ€sentation. Typisch fĂŒr die Individuellen Mythologien sind große, manchmal sich auf einen ganzen Raum ausbreitende Environments und Installationen, die oft den Charakter einer KultstĂ€tte annehmen.“ (Stegmann, Markus/Zey, RenĂ©: Lexikon der modernen Kunst. Techniken und Stile. Hamburg 2000, S. 66f)

Harald Kimpel schreibt: „Individuelle Mythologien konfrontieren die Außenwelt mit visuellen Manifestationen, die sie als ihre eigene Wirklichkeit ausgeben, mit selbst erzeugten Bildwelten, deren komplexe GefĂŒge aus Zeichen und Symbolsystemen den Anspruch eigenstĂ€ndiger RealitĂ€t erheben. Das Konzept nimmt also diejenigen KĂŒnstler/innen ernst, die sich – stets in Gefahr, als „Spinner“ (Harald Szeemann) abgetan zu werden – mit ihren Bildwelten aus den Konventionen des kollektiven WirklichkeitsverstĂ€ndnisses ausklinken und EntwĂŒrfe eines Kosmos liefern, der nur den eigenen kontrollierten GesetzmĂ€ĂŸigkeiten gehorcht.“ (Kimpel, Harald: Individuelle Mythologien. In; Butin, Hubertus, Hrsg.: DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. Köln 2006, S. 120)Nach Walter Szeemann stellt hier Egozentrik den Anspruch, eine allgemeingĂŒltige Sprache zu sprechen.   (Originalquelle leider nicht bekannt. Siehe auch: Wiese, Stephan von: Michael Buthe. Sculptura in Deo Fabulosa. MĂŒnchen 1983, S. 156)

Wichtige Vertreter/innen dieser Kunstrichtung, die wĂ€hrend der Documenta 5 im Dachgeschoss des Museum Fridericianum als obsessiv kĂŒnstlerische EinzelgĂ€nger/innen ihre emotionalen PrivatssphĂ€ren und ihre existentiellen Selbsterfahrungen prĂ€sentierten, sind Étienne-Martin, La Monte Young, Marian Zazeela, Paul Thek und eben Michael Buthe (sic!). Weitere Vertreter/innen sind JĂŒrgen Brodwolf, James Lee Byars und Panamarenko.